Gülistan besuchte 2022 den Gründungskurs und hat sich Ende 2022 als Sozialpädagogische Familienbegleiterin mit transkulturellem und traumapädagogischem Schwerpunkt selbstständig gemacht. Im Fokus ihrer Arbeit steht das Kindeswohl und die zielgerichtete, ressourcenorientierte Arbeit zur Verbesserung der Lebenssituation der beteiligten Personen, damit gibt sie den betroffenen Familien Hilfe zur Selbsthilfe.
Du hattest eine schwierige Zeit. Wie geht es dir heute, Gülistan?
Heute geht es mir richtig gut. 2021 konnte ich aufgrund eines Burnouts meine Stelle als Sozialpädagogische Familienbegleiterin nicht mehr ausüben. Im Frühjahr 2022 habe ich dann an einem Arbeitsprogramm von sahara teilgenommen. Das war für mich ein Glücksfall, nicht nur weil ich bei sahara eine Tagesstruktur erhalten haben und mich stabilisieren konnte. Zu meiner Coachin hatte ich dort nämlich gesagt: «Frau Schweizer, ich will nichts mehr mit dieser klassischen Arbeitswelt zu tun haben. Ich will mich selbständig machen.» Sie fragte mich dann, ob ich Crescenda kenne. Dort gebe es ein Gründungsprogramm für Frauen mit Migrationserfahrung. Sobald ich zuhause war, habe ich bei euch angerufen und hatte dann ein langes Gespräch mit Corinna Zuckerman. Es war Mitte Mai, drei Tage vor dem offiziellen Kursstart. Und ich habe mich kurzerhand angemeldet.
Und dann bist du hochmotiviert in deinen Weg in die Selbständigkeit gestartet.
Die Motivation kam ehrlich gestanden erst im Laufe des Kurses. Ich wusste zwar, dass ich mich selbständig machen möchte, aber es fühlte sich so surreal an. Ich hatte Ängste und keinen konkreten Weg vor Augen und war noch nicht stabil genug. Die Gespräche mit den Coaches haben mir aber viel Halt gegeben und ich wusste, dass ich bei ihnen offen sein kann und in einem sicheren Raum bin. Und dann kamen meine ersten Erfolgserlebnisse – die Schärfung meines Angebots und meines Profils, die Webseite, die ich selbst aufgebaut habe, meine Konzeptarbeit, erste Kontakte mit Behörden. Und dann wurde es immer greifbarer: Ich will und ich kann mich selbständig machen! Und jetzt habe ich bereits eine erste Klientin, die ich regelmässig begleite. Das hätte ich anfangs Jahr nicht für möglich gehalten.
Das Burnout muss eine sehr belastende Zeit gewesen sein.
Als ich im Burnout war, dachte ich, dass ich meinen Job als Sozialpädagogin nie mehr ausüben kann. Ich hatte mit immer schwierigeren Fällen zu tun und mir selbst ging es nicht mehr gut. Diese gefühlte Ausweglosigkeit war zermürbend, und dass das Burnout immer noch ein Tabuthema ist, hat meinen Zustand nicht einfacher gemacht. Viele Menschen hatten bereits ein Burnout oder eine Erschöpfungsdepression. Aber wir reden nicht darüber, weil wir Angst haben, in eine Schublade gesteckt zu werden, aus der wir nachher nicht mehr herauskommen. Betroffene haben auch Angst, dass sie keine Arbeitsstelle mehr bekommen, wenn sie dem neuen Arbeitgeber oder Arbeitgeberin von ihrer Erkrankung erzählen. Ich denke, es ist ein gravierendes Problem, dass seelische und psychische Erkrankungen in unserer Leistungsgesellschaft nach wie vor tabuisiert werden.
Wie konnte Crescenda dich auf deinem Weg denn stärken?
Zum Glück kamen die Kräfte zurück und ich empfand wieder Lebensfreude und hatte Visionen und Ziele für mein Leben. Die Zeit bei Crescenda hat mir Standhaftigkeit und Zuversicht gegeben. Ihr habt mir gesagt: «Doch, du schaffst das, wenn du das willst. Du hast das Zeug dazu!» So habe ich den Mut gewonnen, dass ich es tatsächlich schaffen kann. Und die individuelle Begleitung durch die Coaches hat mir bei den konkreten Arbeitsschritten sehr geholfen.
Du bist nun im Alumnae Netzwerk aktiv, was möchtest du da bewirken?
Der Austausch mit den Alumnae ist mir wichtig. Wir lernen gegenseitig von unseren Erfahrungen und bestärken uns auf unserem jeweiligen Weg. Das gibt Mut und so bleiben wir gemeinsam am Ball. Mir persönlich ist allerdings auch wichtig, dass ich andere Frauen darin stärke, sich dem «Stigma Migrationshintergrund» zu widersetzen und sich dafür einzusetzen, dass sie die gleichen Rechte und Chancen erhalten wie die Schweizer Bürger:innen.
Wie erlebst du dieses Stigma?
Ich lebe schon so lange in Europa und werde immer noch als Mensch mit Migrationshintergrund gesehen. Ich denke, selbst in der Schweiz werde ich mit dem Label «mit Migrationshintergrund» sterben. Sogar die Menschen, die Sahara Basel ist ein soziales Frauenprojekt und bietet Arbeitsintegration und IV-Lehrstellen für Frauen an, die schon lange in der Schweiz leben und die Sprache gut sprechen, beruflich aktiv und integriert sind, werden primär als Ausländer:innen wahrgenommen. In unserer Gesellschaft haben Menschen mit Migrationshintergrund nicht die gleichen Chancen und Möglichkeiten und sind immer noch benachteiligt. Und diese Umstände sind die Daseinsberechtigung für so tolle Initiativen wie Crescenda. Aber eigentlich möchte ich gar nicht, dass es Institutionen wie euch überhaupt noch braucht.
Oh je, willst du Crescenda etwa abschaffen?
Nein, natürlich nicht… (lacht). Solange es Frauen gibt, die einen sicheren Ort und eine Chancengeberin wie Crescenda brauchen, braucht es Crescenda. Denn hier erhalten Frauen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen. Es zeigt aber auch, dass Politik und Gesellschaft noch nicht bereit sind für echte Gleichberechtigung und Chancengleichheit. Und ich werde mich dafür einsetzen, dass sich politisch etwas ändert. Wir wünschen dir weiterhin alles Gute auf deinem Weg.
(Das Interview wurde im Jahresbericht 2022 publiziert.)
Weitere Informationen zu Gülistans Familienbegleitung und Soziale Arbeit in der Familie finden Sie hier.
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